„Im Kern einer jeden Geschichte gibt es ein Rätsel.“ (S. 91)

Beim camp nanowrimo Juli 2021 habe ich das Buch „Der Geschichtenerzähler oder das Geheimnis des Glücks“ von Joel Ben Izzy wiedergelesen und zu jedem Kapitel meine Erfahrungen und Leseeindrücke in Self Love Letters festgehalten. Verbindend war für mich zu diesem Zeitpunkt, dass es in der Geschichte darum geht, dass die Hauptfigur, der Geschichtenerzähler Joel, seine Stimme verloren hat und damit sein Arbeitswerkzeug, sein Medium, um sich auszudrücken, sogar sein Lebenssinn und seine Identität stehen in Frage. 

Ich selbst hatte mir einige Zeit zuvor den Daumen meiner Schreibhand verletzt – mein Arbeitswerkzeug! Meine Hand schmerzt immer noch etwas beim Schreiben. Aber einige Monate lang konnte ich gar keinen Stift halten. Zwar habe ich gelernt, mit der Nicht-Schreibhand zu schreiben, ich habe auch gelernt, die Diktierfunktion meines Smartphones und der Textverarbeitungsprogramme zu nutzen. Ich habe Text produziert. Aber ich habe nicht geschrieben. Es ist einfach nicht das gleiche, nicht dieses besondere Gefühl, was man haben kann, wenn die Hand mit dem Füller über das Papier gleitet, man zusehen kann, wie die Tinte ins Papier trocknet. Ich fühlte mich elend und suchte in der Geschichte dieses Leidensgenossen nach Inspiration, nach Antworten, wie ich damit umgehen und was ich daraus lernen könnte. 

Schon beim Beginn der Geschichte habe ich mich über mein Gejammer geschämt. Denn die Figuren in diesem autobiographischen Roman hatten es ungleich schwerer. Der Protagonist Joel musste sich aufgrund von Kehlkopfkrebs einer Operation unterziehen, die zur Folge hatte, dass seine Stimme verschwand. Ob dieser Verlust von Dauer sein würde, warum das ausgerechnet ihm passiert, wie er seinen Weg finden und seine angegriffene Identität wieder herstellen könnte, darum geht es in diesem Buch. Und so begegnen wir in seiner Erinnerung seinem Vater, den er früh schon verlor. Der Vater war Violinist, musste das Spielen in einem Orchester aber aufgeben aufgrund einer unheilbaren Krankheit. Mit einer bewundernswerten Einstellung erduldete er es, dass er seine Träume nicht verwirklichen konnte. Er sagte immer: „Die Menschen schmieden Pläne und Gott lacht. Du kannst mit Gott lachen oder einsam und verlassen weinen.“ (S. 35). Auch die Mutter verlor einen Sinn, der sie zwang, ihr Selbstverständnis und ihre Arbeit zu verändern: Sie war Journalistin und wurde taub. Fortan konnte sie Interviews nur noch schriftlich oder mit aufwendiger Tontechnik führen und arbeitete bei einer Zeitung für Schwerhörige. Auch ihr Verlust war physisch nicht heilbar und auch sie musste irgendwie damit leben. Ihr Motto: „Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich ein Fenster.“ Und nun war Joel stumm, ein Geschichtenerzähler, der öffentlich auftrat und sich für Feiern buchen ließ. Diese drei Menschen konnten nicht mehr tun, was sie liebten, nicht mehr ihren Beruf ausüben, den sie mit Liebe ausgewählt hatten. 

In dem Buch begleiten wir nun Joel dabei, wie er trauert, hadert, verzweifelt, hofft, liebt. Wir begleiten ihn dabei, wie er seinen alten Lehrer trifft, einen wichtigen Arzt spricht, wie er sich mit seiner Mutter erinnert und sich berühren lässt, wie ihn die Kinder herausfordern und wie seine Frau die Familiensorge leistet, während er sich zurückzieht oder jene Menschen besucht. 

Eine zentrale Figur ist Joels Lehrer Lenny. Ihn trifft er nach vielen Jahren wieder, mit ihm streitet er,  von ihm lernt er. Dabei ist Lenny nicht der weise Alte, sondern ein verschrobener unsympathischer Typ, dem sein eigenes Leben zu entgleiten scheint. Und so sonderbar sind dann auch seine Geschichten, seine Fragen und Ratschläge an Joel.  Als Joel verzweifelt sagte: „Ich weiß nicht… wo ich anfangen…soll“, antwortet er: „Das ist egal. Wo auch immer du beginnst, ist der Anfang. Mach einfach weiter, und das Ende findet dich.“ (S. 70) „Ich kann sehen, dass du durch die reinste Hölle gegangen bist. Ich ich habe keine Antwort sondern noch eine Frage: Und die wäre: Bist du bereit, aus deinen Erfahrungen zu lernen?“ (S. 73) Später sagt Lenny: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Antworten kommen, wenn die Zeit reif ist. Je schwieriger die Frage, desto einfacher die Antwort. Deine Frage lässt sich vielleicht mit nur einem Wort beantworten. Aber es bringt nichts sie erraten zu wollen. Die Antwort hätte dann keine Bedeutung mehr. Du musst zunächst die Frage voll ausschöpfen: ‚Warum hast du deine Stimme verloren?’“ Er lächelte. „Behandle sie wie… ein Rätsel.“ (S. 91) Ihn trifft Joel einige Male, verbringt Zeit mit diesem Mann, dem sein eigenes Leben so seltsam entgleitet. Und doch gewinnen die beiden Männer wieder eine respektvolle Nähe zueinander, sie lernen miteinander und mit ihnen können wir Lesenden lernen. 

Die Geschichten zu Beginn jedes Kapitels, die Gedanken und seltsamen Verhaltensweisen Joels auf seinem Weg zur Antwort und die Ratschläge und Fragen Lennys haben mich sehr durchgerüttelt und zum Nachdenken angeregt, auch zum Fühlen.  „Beim Geschichtenerzählen geht es auch nicht um Wörter, die man ausspricht. Wenn du eine Geschichte in dir hast und dein Herz öffnest, dann wirst du selbst zu einem Medium – die Geschichte fließt durch dich hindurch. Was die Wörter angeht“, sagte er mit einer beschwichtigenden Handbewegung, „sie sind Nebensache.“ (S.90)

Durch Joels Geschichte habe ich meine Frage auch voll ausgeschöpft. Ich habe meinen Schreibschmerz verstanden. Dieses kurze Büchlein hat mich vieles gelehrt: Demut. Anfangen und Schaffen, solange ich kann. Kleiner Unfall große Wirkung. Glück gehabt dennoch. Selbstfürsorge. Dankbarkeit. Heilung. Die Wiederentdeckung des Lesens. Mich in die Geschichten und Gedichte wieder ganz versenken. Inspiration im Gespräch mit anderen Schreibenden finden. Zum Schreiben anstiften ist wunderbar. Zuhören auch. Verletzlichkeit – die eigene und die anderer Menschen – aushalten. Mich berühren lassen. 

Joel Ben Izzy: Der Geschichtenerzähler oder das Geheimnis des Glücks

(Autobiographischer Roman erschienen 2005 bei Herder, am. original 2003)