Küssen. Schreiben. Leben.
In diesem Jugendroman begleiten wir die Protagonistin Sheherazade auf ihrem Weg zu einer selbst-bewussten jungen Frau und Schriftstellerin. Wir lernen sie kennen, als sie zusammen mit ihrer Mutter den Arzt des Vaters im Krankenhaus sprechen. Der Vater kam mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus. In diesem Gespräch, welches im Buch verwoben ist mit Ausschnitten der Zine*-Kunst von Sheherazade, erfahren wir bereits, dass die Familie vor Jahren aus dem Krieg im Westjordanland nach Dänemark floh, um ihrer damals 7jährigen Tochter ein sicheres Leben zu ermöglichen. Der Vater konnte den Krieg aber nicht hinter sich lassen. Durch ständiges Fernsehen und Telefonate in die Heimat ruft er sich die Bilder immer wieder auf, leidet noch 10 Jahre nach der Flucht an Albträumen und einer Posttraumatischen Belastungsstörung, gerät gelegentlich außer Kontrolle.
Auf Sheherazade, inzwischen eine Abiturientin, lastet die hohe Erwartung der Mutter, sich der Kultur der Muslime in dem Wohnblock entsprechend zu verhalten sowie einen angesehen Beruf zu erlernen. „Sie soll Ärztin werden.“ (S. 17) Schon in der ersten Szene wird klar, dass das nicht ihr Wunsch ist. Sie will Schriftstellerin werden. Wie ihr Vater. Der war in seiner Heimat Dichter, kam für seine Gedichte sogar ins Gefängnis und wurde gefoltert. Die Mutter hält das allerdings nicht für einen seriösen Beruf. Und die Bilder, die sie ihren Texten hinzufügt, findet die Mutter nicht mal schön.
Im Krankenhaus lernt She, wie sie sich kurz nennt, Thea kennen, die aus einem recht freien und weltoffenen Elternhaus stammt. Ihre Eltern sind Journalisten und viel herumgekommen. Anders als die Jugendlichen in ihrem Gymnasium hatte Thea deshalb schon Kontakt zu unterschiedlichsten Kulturen. Sie vorverurteilt She nicht, im Gegenteil. In ihr findet She eine Begleiterin, die ihr hilft, zu sich selbst zu stehen. Denn die junge Muslima wird im Gymnasium des bürgerlichen Stadtteils außerhalb ihres „Ghettos“ diskriminiert, weil sie keine richtige Dänin ist. Zu Hause eckt sie an, weil sie nicht die Erwartungen der Mutter und der Nachbarschaft erfüllt.
Und dann ist sie auch noch das erste Mal verliebt und sorgt sich zu alledem um ihren kranken Vater.
Ihre Eindrücke und Empfindungen verarbeitet She in Zines. Diese Zines sind als einzelne Seiten in das Buch eingestreut. Hier setzt She eigene bruchstückhafte Texte mit Bildern aus Zeitungen und Zeitschriften zu Text-Bild-Collagen zusammen. Diese Collagen erzählen von der Not des Vaters, von der Kriegsberichterstattung im Fernsehen, von aktuellen Erlebnissen mit ihrer Familie, die sie durchrütteln und ihr auch peinlich sind. Sie erzählen von Diskriminierung, welche die muslimischen Menschen des Blocks von Menschen außerhalb erfahren. Und sie erzählen davon, wie es sich die Nachbarschaft des Blocks auch innerhalb ihrer Community schwer macht, welcher Druck herrscht, welche kulturellen und sozialen Erwartungen einzelne belasten bis hin zu schlimmen persönlichen Folgen. Als sie darüber mit ihrem Vater spricht, ihn nicht verschont, wie die Mutter es wünscht, gesteht er sich ein: „Vielleicht würde es mir auch helfen, wieder zu schreiben. Wie in alten Zeiten. Gedichte und Artikel.“ (S. 227) Sie erfährt sogar seine Unterstützung. Er sagt zu ihr: „Mach einfach, was dich glücklich macht. Küss. Schreib. Genieß das Leben. (…) In der Seele liegt die Freiheit, in der Liebe die Kraft. Hoffnung ist Liebe und Träume sind die Revolution. Das ist es, was die Welt verändert.“ (S. 228)
In den Zines hat She die Freiheit, über ihre Liebe und Träume, aber auch ihre Schmerzen und Sorgen zu schreiben. Sie hat damit eine Form gefunden, um ihrem Inneren Ausdruck zu verleihen. Ihre Zines – als einzelne Seiten im Buch enthalten – sind beeindruckend, verstörend, authentisch.
Dieser Roman ist inspirierend – in vielerlei Hinsicht. Er erzählt vom Anderssein und wie man damit klarkommt. Er erzählt von starken Personen und ihren verschiedenen Herausforderungen und Wegen. Ganz besonders erzählt er von jungen Frauen und ihren Freund*innen, die sich auf je individuelle Weise für sich und ihre Liebsten einsetzen. Wir begegnen LGBTQ-Menschen, die sich dem Druck ihrer jeweiligen Kultur entziehen, die sich zurückziehen in ihre Subkulturen, die Kunst als Ausdrucksmittel gefunden haben und mit dieser Kunst in die Öffentlichkeit gehen.
Und der Roman erzählt von der Kraft des Collagierens und Schreibens, er erzählt davon, wie die Protagonistin durch das Schreiben all das Schreckliche verarbeitet und mit sich selbst in Kontakt kommt. Wir erleben hier eine Form des Schreibens, die Heilung verschafft und zu einem starken Selbst beiträgt. Und nicht zuletzt habe ich durch diesen Roman Zines kennengelernt. Kannten Sie Zines? Ich habe ein bisschen recherchiert und rumprobiert und bin total begeistert von dieser Kunstform, die das Unperfekte, das Einfache, die Aussage und den Austausch feiert. Jede und jeder kann Zines machen, allein und in Gemeinschaft.
Kristina Aamand: Wenn Worte meine Waffe wären.
(Roman erschienen 2018 bei Dressler, übersetzt von Ulrike Brauns, Illustrationen von Sune Ehlers und Frauke Schneider)
*Zines sind kleine Hefte, also kleine MagaZINES, die von den Künstler*innen selbst hergestellt und meist per Drucker/Kopierer vervielfältig werden, um sie dann in geringer Stückzahl zu einem niedrigen Preis zu verkaufen, sie zu tauschen, zu verschenken, zu behalten und zu sammeln. Man bekommt sie in Online-Shops, auf Messen, Festivals und Kunstmärkten. Zinester, so nennen sich die Zines-Künstler*innen, füllen ihre Zines mit Poesie, Geschichten, Collagen, Photos, Comics, Zeichnungen, eben mit Texten und Bildern aller Art. Inzwischen haben sich lebendige Subkulturen bzw. Zines-Szenen etabliert, die Zine-Events veranstalten. Sogar in Bildungskontexte, etwa in Bibliotheken oder in den Deutschunterricht, haben es die Zines geschafft. Die ersten Zines sind als Fanzines in der Science-Fiction-Szene in den 1930/40er Jahren und in den 1960ern in den Punk- und Hippie-Szenen entstanden. Inspiration und Anleitungen finden sich allerhand im www.
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