Monats-Haiku

Warum Haiku schreiben glücklich macht

Es ist Winter. Der Februar beginnt. Es ist dunkel, die Tage sind noch kurz. Mal regnet es, mal liegt Nebel und Dunst über der Stadt und den Feldern. Viele Menschen hetzen eingehüllt in Mäntel, Mützen und Schals durch die Gegend. Die Blicke sind gesenkt. Nur das nächste trockene warme Plätzchen wird gesucht. 

Diese Zeit des Jahres ist nicht unbedingt meine liebste. Vieles kommt mir grau und trist vor. Umso mehr verspüre ich den Wunsch, Schönheit zu sehen und Freude zu erleben. Doch finde ich es nicht so leicht wie im Frühling, wo die Natur erwacht oder im Sommer, wo die Sonne alles erstrahlen lässt oder im Herbst, wo die Farben leuchten. Im Februar muss ich genau hinschauen. 

Und dann entdecke ich die Schönheit und die Freude: in den Eiskristallen auf der Hecke vor dem Haus; wenn ich morgens unter die warme Decke des Kindes schlüpfe; in dem wohltuenden Duft des Rooisbos-Tees am Abend, im mystischen Schatten im Nebel, im Regentropfen am Fenster. Das alles kann ich dann zu Haikus verdichten. Warum? Weil das Haiku mich lehrt, genau hinzuschauen. Weil das Haiku mich fordert, den Moment ganz genau einzufangen. 

Ein Haiku ist ein japanisches Gedicht, das in seiner kurzen Form beflügelnde Augenblicke, Flüchtigkeiten der Natur, die Einfachheit der Welt oder tiefe Empfindungen bewahren kann. Mit seinen drei Zeilen zählt es zu den kürzesten Gedichtformen. Und weil es so kurz ist, ist der kürzeste Monat im Jahr zum National Haiku Writing Month geworden. 

Daher möchte ich dich anstiften, es mir gleichzutun und dich im Februar dieser besonderen Gedichtart zu widmen. Dazu zeige ich dir in diesem Blogbeitrag, warum es sich lohnt, Haikus zu verfassen, und was du dabei für dein Schreiben lernen kannst. 

 

Februar so grau

dichter Nebel sinkt herab

bis ein Licht durch bricht

Merkmale des Haikus

Das japanische Gedicht Haiku besteht aus einer sehr einfachen und strengen Struktur. In drei Zeilen werden 17 Silben verfasst. Dabei besteht die erste Zeile aus 5 Silben, die zweite Zeile aus 7 Silben und die dritte Zeile wieder aus 5 Silben. Gereimt wird nicht in den Zeilen. Vielmehr entsteht die Poesie durch den Rhythmus der Silben, durch die Kürze, die Konkretheit und Gegenwärtigkeit. 

Denn traditionell werden in Haikus die Natur, ein Naturereignis und Jahreszeiten genutzt, um ein Gefühl auszudrücken oder von einem besonderen Moment zu erzählen. Durch die Kürze des Gedichts können die Dichterinnen und Dichter nur das Wesentliche ausdrücken und Interpretationsraum lassen. Sie müssen sich überlegen, welche Worte sie wählen und ganz in der Gegenwartsform Präsens schreiben. 

Haikus öffnen die Türen zur Poesie

Auch wenn das Haiku dieser Form folgt, so ist es doch durch die Kürze und das Silben-Schema eine Gedichtform, die jeder Mensch meistern kann. An diesem festen Rahmen kann man sich gut orientieren. Denn dadurch, dass die Form vorgegeben ist, kann man sich auf den Inhalt fokussieren und die passenden Worte finden. Dabei kannst du mit den Worten spielen, bis du sowohl das aussagst, was du meinst oder empfindest als auch Worte gefunden hast, die in das Schema passen. Das fördert deine Kreativität. Genauso regt das Haiku an, mit sprachlichen Bildern oder anderen Stilmitteln zu experimentieren, wie mit der Lautmalerei oder der Wortstellung im gesamten kleinen Gedicht. Man kommt gar nicht umhin, die Worte zu verschieben, bis die Silben passen und der Klang stimmt. In unseren Schreibkursen mit Kindern fanden die Haikus großen Anklang. Einige Kinder haben sich sogar getraut, mit der Silbenform ein wenig zu spielen und die Regeln zu brechen. Damit haben sie ihre Kreativität entfaltet und sich auf die Poesie eingelassen. Weitere Gedichte folgten.

Natürlich den eigenen Schreibstil entwickeln

Das Thema Natur kann dir helfen, dich dem Haiku zu nähern und deine Schreibstimme spielerisch zu trainieren. Die Natur um dich herum gibt viele Anregungen. Gehst du mit offenen Augen durch die Welt, so kannst du überall Ideen für Haikus finden. Die Natur oder auch deine Stadt ist voll mit erstaunlichen kleinen Dingen, die man entdecken kann und die uns die passenden Bilder schenken, um über besondere Momente oder Seelenzustände zu erzählen. 

Die ersten Weidenkätzchen beschreiben das sanfte Erwachen aus dem Wintergrau. Die Linien auf einem Stein erinnern Wilson A. Bentley an eine Hauptstraße ans Ende der Welt und an Wege quer durch die Felder (siehe „Der Schneeflockensammler“ von Robert Schneider und Linda Wolfsgruber). Das Muster auf dem Bürgersteig erinnert an Kindertage und lässt den Weg leichter erscheinen. Und wovon erzählen die Eiskristalle an den Gräsern und die Farbe der Wolken? 

Du siehst: Mit wenigen Worten kannst du Stimmungen und Gefühle subtil darstellen. Und gleichzeitig kannst du Raum lassen für Mehrdeutigkeit, für die Fantasie deiner Leser. 

 

Haiku-Poesie

Ich geh meinen Weg

Die Linien sind verboten

Kinderspielerei

 

zartes Haiku

Es knackt, es knarzt – Eis

Hüllt ein die Natur in Schlaf 

Bis Licht alles löst

 

Beobachtung und Gespür für Stimmungen schärfen 

Haikus sind eine bezaubernde oder auch zuweilen kecke Möglichkeit, flüchtige Momente zu bewahren und kleinen Naturereignissen größere Bedeutung in einem Gedicht zu verleihen. Das erfordert deine Aufmerksamkeit und Hingabe. Bestimmt wirst du auch die Stimmungen in diesen Momenten neu wahrnehmen. Gehst du auf die Suche nach Bildern und Themen für ein Haiku, gehst du mit einem neuen Blick durch die Welt und betrachtest deine Umgebung bewusster. Gerade das Bewahren von flüchtigen Momenten schult deine Fähigkeit, im Alltag Schönheit und Inspiration zu finden. 

 

Haiku schreiben Flucht aus dem Alltag

Gelockt von Versprechungen

Gefangen im Netz

 

Gemeinschaft finden mit Haikus

Schreiben ist für uns auch eine verbindende Kunst. Unser Schreiben wird belebt, wenn wir zusammen Schreibimpulse ausprobieren und unsere Texte miteinander teilen und darüber reden. Das Haiku ist eignet sich besonders, um sich mit anderen Schreibenden zu verbinden. Die kurzen und doch tiefen Texte lassen sich leicht teilen, das Lesen von Haikus oder auch das Gespräch darüber inspiriert dann wieder zu eigenen Haikus.  

Eine Möglichkeit, um sich inspirieren zu lassen oder um sich aktiv mit anderen Schreibenden über Haikus auszutauschen, bietet der National Haiku Writing Month. Jedes Jahr im Februar schreiben Menschen auf der ganzen Welt Haikus und teilen diese auf Social Media. Als Anregungen geben dazu verschiedene Personen Writing Prompts, also Schreibimpulse. Das kann ein Wort sein oder ein Thema oder auch Bilder.

Also Haiku Schreiben

Haikus sind also eine Gedichtform, mit der du deinen Schreibstil entwickeln kann, mit der du dich darin üben kannst, auf den Punkt zu formulieren, innere Zustände zu verbildlichen, deine Umgebung genau wahrzunehmen. Vor allem aber sind sie kleine kunstvolle Gebilde in sich.

Erlebe Haiku-Poesie im Februar

Nutze den Februar doch einmal, um dein Leben poetischer zu gestalten. Geh raus, sei aufmerksam, beobachte die Natur und sieh genau hin. Suche die Schönheit, mach ein Foto, dichte ein Haiku. Und wenn du magst, zeig anderen deine Haikus oder sammle sie ganz für dich selbst, damit sich dein Februar nicht gar zu grau anfühlt.

Viel Freude,

Nora

 

Auf dieser Website findest du noch mehr Informationen über Haikus und viele Beispiele und Schreibanregungen: https://haikugedichte.de/haiku/  

Unsere liebe Kollegin Christine nutzt Haikus, um auf Themen aufmerksam zu machen: https://christinekaemmer.com/haiku-fuer-menschenrechte/

Ab und zu gibt Christine auch Workshops zum Haiku schreiben. Hier erzählt eine ihrer Teilnehmerinnen von ihren Erfahrungen: https://meerestraeumerinnen.de/2022/10/22/haiku-workshop/ 

Hier erzählen wir von einem Buch über Wilson Alwyn Bentley, einen Menschen, der einen Sinn für die kleinen Dinge der Natur hatte und schon als Kind geheime Sammlungen angelegt hatte. Besonders fasziniert war er vom Winter und der Poesie der Schneeflocken.