Weil Lesen und Schreiben ein Wunder ist.
Dieses Buch ist poetisch, ergreifend, schaurig, schön, überraschend, unvorhersehbar, märchenhaft, mystisch. Aber beginnen wir von vorn: Emilia, Lämpchen genannt, ist die Tochter des einbeinigen Leuchtturmwärters Augustus Wassermann. Wegen eines Vorfalls mit ihrem Vater wird sie zum Leben und Arbeiten in das schwarze Haus gebracht. Über diesen Ort werden unheimliche Dinge erzählt. Man glaubt, dort wohne ein Monster. Tatsächlich lernt sie dort liebenswerte und außergewöhnliche Personen kennen, deren Leben sich im Laufe der Geschichte wandeln.
Da ist zuerst die etwas herbe Haushälterin Martha mit ihrem geistig eingeschränkten Sohn Lennie. Da ist der Gärtner Nick, der oft weg ist und im richtigen Moment einfach auftaucht und hilft. Und dann ist da noch das vermeintliche Monster mit seiner eigenen tragischen Geschichte und einer Menge Selbstverachtung. Emilia aber lässt das nicht so gelten und nähert sich den einzelnen Personen an und fast unbemerkt entstehen besondere Freundschaften zwischen all diesen Außenseiter, falls es sowas überhaupt gibt.
Die Hauptfiguren in dieser Geschichte haben alle ihre jeweils eigenen Nöte. Einige haben geliebte Familienmitglieder verloren und sprechen in Gedanken mit ihnen. Sie erleben Gewalt, leben in Armut, sind teils ungebildet, müssen viel arbeiten oder trainieren. Ihre Herkunft und ihr sozialer Stand sind verknüpft mit Erwartungen und Vorurteilen. Sie hadern damit, diese Erwartungen zu erfüllen und die Vorurteile nicht anzunehmen. Ihnen wird Schuld eingeredet und Verantwortung zugeschrieben für Dinge, für die sie nichts können. Im Gegenteil, sie alle müssen – jeder auf seine Art – mit den Auswirkungen davon zurechtkommen.
Sie alle vereint, dass sie an den Rand der Gemeinschaft gedrängt sind, ausgegrenzt von einem Leben unter all den Menschen in der Stadt. Ja sie sind sogar geübt darin, sich unsichtbar zu machen, jeder auf seine Weise. Symbolisch sind darum all die Orte zu lesen: Lämpchens erstes Zuhause ist der Leuchtturm auf einer Halbinsel vor dem Hafen. Ihr zweites Zuhause sollte weit draußen im Wald, hinter einer hohen Hecke, auf der Klippe das schwarze Haus sein. In diesem schwarzen Haus noch weiter ausgegrenzt, eingeschlossen in dem Turmzimmer ganz oben, lebt das vermeintliche Monster und versteckt in einem Gartenhäuschen der Gärtner. Weiter weg von dem Leben in der nächsten Stadt kann man nicht sein. Und selbst in der Stadt erlebt Emilia Ausgrenzung: Auf dem Jahrmarkt trifft sie in einem Zelt die „erstaunlichsten Ungeheuer aller Zeiten“, allesamt Menschen und magische Geschöpfe, die außerhalb der Norm sind, die besondere körperliche Merkmale haben und zum Begaffen ausgestellt werden. Und dann gibt es noch eine wichtige Szene hinten im Hafen hinter den vernünftigen Schiffen auf dem halbverfallenen Steg. Was sich hier ereignet, mögen wir nicht verraten. Aber es sind wiederum Außenseiter, die sich hier begegnen und einander helfen müssen.
Und das ist das Erstaunliche an der Geschichte: All diese Außenseiter lernen, einander zu helfen. Damit bilden sie eine Gruppe, zu der sie gehören. Und sie lernen auch, sich selbst zu retten, sich selbst und die anderen anzunehmen und Vorurteilen keine Macht zu geben. Sie lernen damit schließlich auch, zu sich selbst zu gehören, ihren Sehnsüchten zu vertrauen und ein authentisches Leben zu leben. Da passt der amerikanische Untertitel sehr gut: „Eine Geschichte von Sehnsucht und Zugehörigkeit“.
Ein literarisch bemerkenswertes Buch
Das Buch erhielt, wie wir auch finden zu Recht, sehr viel Anerkennung: Es wurde 2017 in den Niederlanden veröffentlicht und seitdem in viele Sprachen übersetzt und sogar schon als Mini-Serie verfilmt. Die Autorin gewann damit in den Niederlanden vier renommierte Literaturpreise und auch die deutsche Übersetzerin, Eva Schweikart, erhielt für ihre poetische Arbeit an diesem Roman einen Übersetzerpreis. Und wir stimmen der Jury zu: Man merkt gar nicht, dass man eine Übersetzung liest. Die Geschichte und das Original-Cover sind von der Autorin selbst illustriert. Annet Schaap hatte zuvor schon zahlreiche Bücher illustriert und am Jugendtheater gearbeitet. Mit diesem Debüt erfüllte sie sich den Traum vom eigenen, selbstgeschriebenen Buch.
Warum stellen wir das so heraus? Dieses Buch ist ein gelungenes Beispiel für ein literarisches, poetisches, spannendes Kinderbuch ab 10 Jahre. In dem Buch werden wichtige Themen verhandelt, aber nicht mit moralisch erhobenem Zeigefinger, sondern durch die Geschichte und die literarischen Stilmittel.
Bemerkenswert fanden wir, wie klar ein Erzähler die Geschichte erzählt und dabei auch die Perspektive wechselt, vor allem zwischen Emilia und dem „Monster“, die wir auf diese Weise intensiv kennenlernen. Aber wir erhalten auch Einblick in die Gedankenwelt anderer Figuren, etwa in die der Väter der Kinder, in Marthas und Nicks Gedanken oder in die der bösen Lehrerin. Diese Perspektivwechsel sind deutlich, man weiß beim Lesen immer, bei wem man ist und kann sich gut in die einzelnen Figuren hineinversetzen. Diese Figuren befinden sich nicht nur an symbolischen Orten, die Umgebung wird auch personifiziert. So spricht etwa der Wind zu Lämpchen, Häuser weichen dem Wind aus, die Bretter an der Haustür murmeln Emilia etwas zu oder die Bücher lachen sie aus. Und selbst Tote oder Abwesende erhalten in den Gedanken von Emilia und dem „Monster“ eine Stimme. Die begegnen den Kindern auch in ihren Träumen und verraten etwas über ihre Herkunft und deuten auf die weitere Entwicklung. Die Kapitel enden oft mit einem poetischen Satz. Überhaupt ist die Sprache sehr klar und doch auch metaphorisch und lyrisch. Metaphorisch scheint auch die Bedeutung der Namen, etwa dass Emilia die Eifrige bedeutet. Sie ist ein Kind, das unermüdlich arbeitet und lernt und sich für die anderen und für die Menschlichkeit einsetzt. In der Geschichte gibt es auch einen Helfer, den Krämer Frederik Rosenholz. Und wohl nicht zufällig bedeutet Frederik der Friedensfürst. Seine furchtbare Frau hingegen, Hilde, bedeutet Kämpferin. Und sie kämpft, nämlich gegen all die Außenseiter, gegen die Abweichung von der Norm. Emilias Freund Lennie, der Sohn der Haushälterin, steht für Mut und Stärke. Diese Eigenschaften hat er und gebraucht sie, um andere und sich zu retten.
Ein Buch auch für schreibende Menschen
Von diesem Buch können wir uns als Schreibende eine Menge abschauen und uns inspirieren lassen. Und das Schreiben selbst bekommt auch einen Platz in der Geschichte. Emilia kann es nicht. Sie konnte nur kurz die Schule besuchen und ist deshalb Analphabetin. Das „Monster“ bringt ihr Lesen und Schreiben bei und das beschert ihr zwei kurze, aber ganz bedeutende Momente: Sie nimmt sich vor, ihren Namen zu schreiben, damit sie richtig zur Welt gehört. (S. 199) Schließlich gelingt es ihr sogar, einen kleinen Brief an ihren Vater zu schreiben, damit dieser an sie denkt. Das empfindet sie als Wunder. (S. 239)
Annet Schaap: Emilia und der Junge aus dem Meer
(Roman, auf Deutsch erschienen 2019 bei Thienemann, 2022 als Taschenbuch bei cbt; original 2017, aus dem Niederländischen übersetzt von Eva Schweikart)
Annet Schaap: www.annetschaap.com
Eva Schweikart: Eva-schweikart.de
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