erinnern vergessen

Erzählen gegen das Vergessen.

Wir lesen die Geschichte von Iris, die ein paar Tage in ihrem Erbe verbringt, dem Haus ihrer Oma Bertha, und überlegt, ob sie es behält. Dabei erinnert sie sich an die Lebensgeschichten, die ihre Familie prägten. Und das sind besonders die Geschichten der Frauen. Vielfältiger Frauen, die auf ganz verschiedene Weise Opfer bringen, arbeiten und sich emanzipieren, die sich suchen in einer anderen, die weggehen und sich hinsehnen.

Wie kann man vom Erinnern und Vergessen erzählen?

Die Erzählerin scheint während des Erzählens selbst auf der Suche nach dem passenden Bild für ihre Erinnerungen zu sein. Zum einen sind da Fälle, Stürze, zumeist von einem Apfelbaum. Die haben das Leben der Figuren entscheidend verändert oder gar beendet. 

Dann ist da das alte Haus mit Garten. Es mutet verwinkelt an, hat viele Zimmer, knarzende Dielen, Anbauten, viele Türen, einen Dachboden. Welcher Raum enthält welche Geschichte? Wer lebte dort? Was geschah dort? Wem war welcher Ort zugedacht worden? Welche Wertigkeiten verbergen sich dahinter? Wer hatte den Schlüssel zu welcher Tür? Welche Zwischenräume gab es? Die Treppe als einen Zwischenraum spricht die Erzählerin direkt selbst an. Dort saß sie mit ihren Freundinnen und Cousinen, halb Kind halb Erwachsen.  Heute ist sie eine erwachsene Frau und schaut zurück. Und begibt sich in jene Räume. Und in die Kleider vergangener Zeiten. In Ermangelung jeglicher Garderobe durchwühlt sie alte Truhen und Schränke und hüllt sich in die Kleider ihrer Tante, ähnlich wie sie es damals schon tat, wenn sie in den Ferien zu Besuch war. Damit scheint sie zuweilen aus der Zeit zu kippen. Und vom Fahrrad. Und ist auf die Hilfe einer Kinderbekanntschaft angewiesen. Es ist Max, der Bruder einer Freundin aus Kindertagen. Ihn lernt sie etwas besser kennen und mit ihm ihre Vergangenheit. Er streicht mit ihr ein Nebengebäude und trifft sich mit ihr im Garten. Auch der Garten ist ein Ort der Erinnerungen. Und wie sie durch den Garten spazierte, all die Kräuter, die Blumen und all das Obst wahrnahm, da roch es ihr wie Sommerferien (S. 55). Nur sind die Erinnerungen in diesem Garten nicht immer fröhlich. Da sind die trauernden Johannisbeeren und jene Apfelbäume, von denen man fallen konnte.

Aber Iris selbst fällt nicht. Sie fliegt. Na zumindest fast. Im Schwimmen hat sie ein Gefühl wie Fliegen für Feige, sagt sie. Auch dort begegnet sie Max. Die Runden im See entziehen sie der Welt. Wie die Bücher, in die sie sich als Jugendliche verkroch und die später ihren Beruf ausmachen sollten. 

es hallt in mir nach

Das Buch erzählt also vom Fallen und dessen Auswirkungen, von Äpfeln, von Zwischenräumen, von Frauenbiographien, Beziehungen, Sehnsüchten, Heimweh, Neid, Hass, Tod, vom Vergessen und Erinnern, vom Erzählen, vom Erzählen als einer Weigerung dem Vergessen stattzugeben. Inhaltlich und kompositorisch fand ich es irgendwie seltsam zerstückelt und dramatisch. Als Leserin folgt man konsequent den Erinnerungsfetzen der Hauptfigur. Und sprachlich hat es mich immer wieder überrascht, welche außergewöhnlichen und sinnlichen, zuweilen auch provokanten Bilder die Erzählerin findet. Dieses Buch beschäftigt mich, macht mich nachdenklich, hallt in mir nach. Immer wieder kann ich hier etwas entdecken. Mir als Leserin und Autorin erzählt dieses Buch besonders viel über das Erzählen von Lebensgeschichten wider das Vergessen. 

Und so schreibt Katharina Hagena selbst in dem Text „Erinnern, vergessen, erfinden“ (in dem Buch „Schreibtisch mit Aussicht“, herausgegeben von Ilka Piepgras, erschienen 2020 bei Kein & Aber): „In diesem Raum zwischen fiktiven Erinnerungen und erinnerter Fiktion steht mein Schreibtisch.“ 

Katharina Hagena: Der Geschmack von Apfelkernen

(Roman, erschienen 2010 bei Kiepenheuer & Witsch)