Schreiben als Lebenskraft
Das Schreiben und die Lebenskraft
Was kann einer Frau neue Kraft geben – angesichts einer so schlimmen Diagnose wie Krebs? Wer kann ihr Kraft geben? Kraft wozu? „Lebenskraft“ heißt es im Titel, Kraft, um für sich selbst zu kämpfen, für das eigene Leben. Diese Kraft kann frau aus sich selbst schöpfen. Ein Weg dorthin, zu sich selbst, führt über das Schreiben. Über die Worte, über das schriftliche Gespräch mit sich selbst. Im Schreiben kann alles raus, all der blinde Zorn, all die neblige Verwirrung, die ziehende Verzweiflung, die wütenden Fragen, die pochenden Sorgen um die Familie… Alles diese schlimmen Gefühle können raus. Und dann kann da Platz sein, Raum für Stille. Raum für die Berührung des Selbst, Raum für Freundschaft, für Familie, für gute Gefühle, Hoffnung und Mut, für Erinnerung und für Pläne. Raum für neue Kraft. Raum für Klarheit, für Glück und für Abschiede.
Welchen Hintergrund hat das Buch-Team?
Mit diesem wunderbaren Buch geben die erfahrenen Schreib-, Kunst- und Kreativitätstherapeutinnen Susanne Diehm und Jutta Michaud (SUDIJUMI) sowie der Direktor der Gynäkologie der Charité Prof. Dr. Jalid Sehouli viele Anregungen zum sogenannten Gesundheitsfördernden Kreativen Schreiben (GKS) für Krebspatientinnen. Bilder der Ärztin und Künstlerin Dr. Adak Pirmorady berühren beim Betrachten.
In vielen Seminaren haben SUDIJUMI Kinder und Jugendliche, HIV Infizierte und Krebspatientinnen mit dem Schreiben ein Mittel gezeigt, mit dem sie zu sich selbst finden können. Dieses Buch ist ganz den Frauen gewidmet, die an Krebs erkrankt sind. Das Buch soll auch jenen Menschen helfen, die sie begleiten. Hier finden sie Schreibanregungen, mit denen sie sich den verschiedenen Gefühlen und Etappen nach der Diagnose zuwenden können. In diesen Schreibanregungen verbinden die Autorinnen behutsam ihre Expertise im Schreibcoaching mit ihren persönlichen Schreibworkshop-Erfahrungen und der Expertise der beiden Ärzt*innen im Kontakt mit Krebspatientiennen. Prof. Sehouli, dem selbst das Schreiben bei der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen geholfen habe, wendet sich in zwei Geleitworten einfühlsam an die Patientinnen und an ihre Angehörigen und Freund*innen und empfiehlt dieses Buch, um sich zu orientieren, um mit sich selbst und mit anderen ins Gespräch zu kommen, um handlungsfähig zu werden und mit Lebensfreude beschenkt zu werden.
Wie ist das Buch aufgebaut? Was finden die schreibenden Leserinnen darin?
Dieses Büchlein ist sehr übersichtlich aufgebaut: In fünf Kapiteln und einem für Angehörige und Freund*innen finden Sie jeweils zwei bis drei Themen mit Übungseinheiten. Diese Übungseinheiten sind eine Reihe von Schreibanregung zu einem Thema, durch die Sie in Kontakt mit Ihren Gefühlen und Gedanken kommen, Fragen stellen oder Antworten erhalten. Die Autorinnen haben mitbedacht, dass in Zeiten intensiver Behandlung oder intensiver Gefühle das Schreiben schwer fallen oder gar mühsam sein kann. Darum gibt es zu jedem Thema einfache – mit einem lilafarbenen Schmetterling gekennzeichnete – Übungen, die nicht so viel Kraft und Zeit benötigen.
In vielen Übungen werden Sie zu Perspektivwechseln und Metaphern angestiftet. Es kann sehr heilsam sein, Bilder zu finden, einen ungewöhnlichen Blick zu wagen und Abstand zu gewinnen zu den Gefühlen und Fragen, die so sprachlos machen. Die Übungen sind verbunden mit vielfältigen Textformen, in denen Sie sich ausdrücken können: Gedichte mit poetischen Formen wie Haiku und Zevenaar über Ihren Wohlfühlort, Listen mit Unterstützern und eigenen inneren Schätzen, Beschreibungen Ihres Körpers als Haus, Gespräche mit Ihrer Inneren Weisheit, kurze Notizen über positive Ereignisse, Geschichten über Zähmungserfolge, Freundschaftsszenen, Rezepte, Limericks, Briefe, Freewritings, Anaphern, Tagebucheinträge, Sammlungen… Beispiele und Anfänge erleichtern den Einstieg ins Schreiben.
Der Aufbau im Detail:
Der erste Teil ist den Patientinnen gewidmet und enthält fünf Kapitel.
Im ersten Kapitel geht es darum, die Krebsdiagnose zu bewältigen, Worte für die Gefühle zu finden, Wut rauszulassen und sich mit all den Fragen an die eigene innere Weisheit zu wenden, sich vergangener Stärken zu besinnen, den ungebetenen Gast kennenzulernen und zur Abreise zu bewegen und schließlich sich der eigenen Werte bewusst zu werden und sich selbst wertzuschätzen, ja zu lieben.
Im zweiten Kapitel spüren Sie Ihre Kraftquellen auf. Das sind als erstes Erinnerungen an Freundschaften, Freunde und Familienmitglieder, die jetzt da sind und jeweils auf ihre besondere Weise helfen können. Ja, und da sind Sie selbst mit all dem, was Sie kostbar macht und all den kleinen Alltagswünschen, die Sie sich erfüllen und sich selbst Gutes tun können. Kleine Anregung aus dem Buch: sich Zeit nehmen für einen Spaziergang oder ein Aromabad, schöne Stifte kaufen anstatt die billigen weiternutzen, einen Kuchen kaufen anstatt zu backen, in den Urlaub fahren anstatt auf die Enkel aufpassen…
Im dritten Kapitel werden Sie aufgefordert, über Zeit und Endlichkeit nachzudenken und in diesem Zusammenhang über Träume, Wünsche, darüber ob sie noch erfüllt werden wollen oder sich verändert haben, darüber wozu Sie „nein“ sagen möchten, was Sie in diesem Leben klären oder regeln oder erleben möchten. Und schließlich werden Sie dazu angeleitet, Ihre Gedanken zu selbstbewusstem und selbstbestimmten Patientinsein zu formulieren.
Im vierten Kapitel geht es um die guten Gefühle. Es beginnt damit, wahrzunehmen, was Sie glücklich macht, was Sie zum Schmunzeln bringt, es zeigt Ihnen Schreibwege zur Gelassenheit, aber auch wie Sie blockierenden miesen Empfindungen die Stirn bieten und stattdessen heilsamen und dankbaren Gedanken Platz geben und sich selbst wieder aktivieren.
Im fünften Kapitel entdecken Sie die Kraft der Magie. Mit magischen Porträts, Märchen und Bildern vergegenwärtigen Sie sich Ihre Kraft, malen Visionen und schauen, wie Sie Ihre Träume ins Leben holen können.
Der zweite Teil ist den Angehörigen und Freunden der an Krebs erkrankten Herzensmenschen gewidmet. Auch sie bekommen hier in drei Übungseinheiten kreative Schreibimpulse, um ihre eigene Sprachlosigkeit, Verwirrung, Sorgen und Hilflosigkeit zu formulieren und den eigenen Ängsten zu begegnen. Es gibt Anregung, wie sie sich den Mut und die Hoffnung bewahren und mit ihren Herzensmenschen in Dialog kommen und helfen, so dass die Patientin ihre Selbstbestimmung wahrt. Die Autorinnen stiften auch an, darüber zu schreiben, welche Herausforderungen sie ängstigen, aber auch wie sie mit Mut an künftige Aufgaben herangehen wollen. Besonders mag ich die Idee, wie man mit seinen Herzensmenschen gemeinsam schreibend schöne Momente erinnert oder kleine Pläne schmiedet und sich für Anstrengungen belohnt.
Im dritten Teil finden Sie Anregungen, wenn Sie von Ihren Schreiberfahrungen begeistert mehr und länger schreiben möchten.
Teil vier ist ein tolles Methodenregister mit wichtigen Schreibmethoden alphabetisch praktisch zum Nachschlagen und zur schnellen Inspiration zwischendurch.
Was macht dieses Buch besonders?
Auf den ersten Blick erscheint dieses Buch wie ein Schatzkästchen, angefüllt mit vielfältigen Schreibanrungen. Auf den zweiten Blick ist es eher wie ein Reiseführer, der den schreibenden Leserinnen in der unüberschaubaren Gefühlslandschaft den Weg zu sich selbst weist.
Mir gefällt an dem Buch, dass es es aus tiefstem Mitgefühl und mit dem größten Respekt geschrieben und liebevoll gestaltet ist. Der Ton der Autorinnen ist ehrlich, zugewandt, empathisch. Sie weisen auch darauf hin, welche Übungseinheiten in bestimmten Situationen wie nach einer OP nicht geeignet sind. Zwischen den einzelnen Kapiteln kann man in den Bildern ausruhen oder sich in eine neue Stimmung fallen lassen. Insgesamt verströhmt dieses Buch eine Zuversicht.
Ein schmuckes schmales Buch, mit dem das kreative Team Sie mittels Schreiben ganz behutsam aus der blockierenden Sprachlosigkeit nach der Diagnose zu neuer Lebenskraft mit positiven Gefühlen und einer eigenen Stimme führen möchte.
[Schreibratgeber – Übungsbuch, erschienen bei Kösel, 2019]
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