
Ein Buch über die Macht von Büchern.
Man darf sich von dem eher kitschig wirkenden Cover des Buches nicht täuschen lassen: Unter diesem Buchdeckel liegt eine wirklich interessante und anregende Geschichte mit Nachgeschmack.
Die Handlung des Buches – Eine spannende Idee gut umgesetzt
Die Protagonistin des Buches ist Emily Paper, eine Schülerin mit Ordnungsfimmel, die um jeden Preis nicht auffallen will und den wohl schlimmsten Lehrer überhaupt ertragen muss. Sie lebt allein bei ihren Großeltern, denn ihre Eltern sind wegen ihres Berufs im Ausland, ein nur schwer zu ertragender Verlust für Emily. Ihre im Gegensatz zu Emily sehr farbvolle und kreativ-chaotische Großmutter arbeitet in einer Bibliothek, in der sich auch Emily sehr oft aufhält, denn sie liebt es, zu lesen. Hier findet sie eines Tages einen goldenen Schlüssel, der sie in eine geheime Bibliothek führt, die außer endlosen Bücherregalen nichts enthält, außer eine goldene Schreibmaschine, mit der man den Inhalt aller Romane auf der Welt nach seinem Belieben verändern kann. Eingraviert sind in sie die Worte (S. 60):
Unsere Welt ist gewoben
Aus Geschichten, Gedanken, Ideen
Langlebiger, fester und schärfer sind sie
Als alles Metall, sämtliches Holz, jeder Stein
Beherrschst du die Worte
Beherrschst du die Welt
Aber beherrschst Du auch
Dich?
Selbstverständlich beherrscht sich Emily nicht, und das mit Konsequenzen. Anfangs ändert sie lediglich ihre Lieblingsbücher so um, wie es ihr gefällt, ändert einen Namen oder das ganze Ende eines Buches. Verlässt die anschließend die geheime Bibliothek, ist die Welt so, als wäre diese Veränderung schon immer da gewesen; nur sie kann sich an die ursprüngliche Variante erinnern.
Emily merkt schnell, dass das Verändern von Büchern viel einflussreicher ist als gedacht und erdichtet sich eine Welt ihrer Träume, in der ihre Eltern zuhause sind und sie mit dem hübschen Jungen in ihrer Klasse zusammen ist. Doch, obwohl es sich anfühlt wie der Himmel, fühlt es sich falsch an und es kommt auch zu vielen ungewollten Folgen, beispielsweise verliert Emily ihre Freunde und ihre Großmutter arbeitet nicht mehr in der Bibliothek. Gerade als der Leser fast schon philosophisch über die Macht und Konsequenzen der Schreibmaschine nachdenkt, kommt es zur Katastrophe: Der grausame Lehrer Emilys, Dr. Dresskau, der um jeden Preis an die Maschine gelangen will, stiehlt den goldenen Schlüssel und verwandelt die Welt kurzerhand in eine Dystopie. Besonders gelungen ist dem Autor die Darstellung der sich gegenwärtig und für die Figuren unbemerkt verändernden Welt, was vor allem in Kapitel 28 deutlich wird: Zunächst werden, scheinbar beiläufig, die aushängenden Wahlplakate beschrieben und Emily wundert sich, dass Dr. Dresskau sich nicht zur Wahl stellt. Der Dialog schreitet ungehindert fort, bis – zwei Seiten später – ein Charakter auf die Wahlplakate zeigt und fragt, ob Dr. Dresskau mit seiner Partei wohl eine Chance hätte, bei der Wahl zu gewinnen. (Hier wird es etwas politisch und sich klar gegen bestimmte Ideologien positioniert. Die Partei, welche Dresskaus “Partei für Tradition und Zukunft“ darstellen soll, ist dabei relativ eindeutig.) Nur zwei Absätze später nennt ein Charakter Dresskau den Bürgermeister und spekuliert über dessen Wiederwahl. Und all das so nah beieinander und doch so selbstverständlich wirkend!
Das Buch erzählt uns eine fantasievolle und doch in Zügen gesellschaftskritische Geschichte, die uns mahnend auffordert, zweimal darüber nachzudenken, was wir uns wünschen. Auch offenbart sich hier die Bedeutung von wahrer Freundschaft und dem Einfluss, den so alltägliche Dinge wie Bücher auf uns und unser Leben haben. Eine wahrhaftig inspirierende Erzählung, die einem länger durch den Kopf geht.
Ein sprachliches Kunstwerk
Das Leseerlebnis wird bei diesem Buch besonders durch geschickten Umgang mit Sprache um einiges aufgewertet. So beginnen z.B. viele Kapitel mit einfachen, philosophisch anmutenden Sätzen wie: „Es gibt keine zwei gleichen Regenbögen“ (S.7) oder „Eigentlich ist Atmen eine ganz einfache Sache“ (S.99) oder aber nichtssagend-einfachen Sätzen wie: „Dr. Günter Dresskau wurde von vielen Menschen unterschätzt“ (S.179) oder „Emilys Großvater hatte die Eigenschaft, alles aufzubewahren“ (S.143). Diese Sätze wirken als Appetizer, sie lassen den verwunderten und interessierten Leser etwas zappeln, bevor sich die Bedeutung der Sätze und die Verbindung zum vorherigen Kapitel offenbart, sodass es schwerfällt, dieses Buch aus der Hand zu legen. Auch wird oft mit interessanten sprachlichen Bildern gearbeitet wie „Macht war etwas Wunderbares, sie öffnete so viele Türen. Trotzdem lag eine weitere verschlossen vor ihm“ (im zweiten Teil ist eine echte Tür gemeint) (S.95) oder „Die dunkle Metalltür wirkte so massiv, als müsste sie die Horden der Hölle zurückhalten“ (S.95). Sie machen die Leseerfahrung auch außerhalb der Handlung zu einem wahren Genuss. An dieser Stelle will auch ein mehrfaches Lesen allen Sprachgourmets empfohlen sein, denn oft entdeckt man noch viel mehr schöne Details und Wortspiele, wenn man die Handlung bereits kennt.
Auch die Charaktere des Buches sind wunderbar gestaltet. So zeigen sich zum Beispiel unzählige Gegensätze zwischen der Protagonistin Emily und dem Antagonisten Dr. Dresskau. Emily hält sich beispielsweise einen Vogel, während Dresskau vor nichts mehr Angst hat als vor Vögeln. Für andere Charaktere hat sich der Autor weitere exotische Eigenschaften überlegt: So verbindet Emilys Freundin Charly Situationen stets mit einem Geschmack, eine lustige Eigenschaft, die im späteren Handlungsverlauf jedoch sehr wichtig wird. Die Charaktere und Orte sind alle sehr stimmig und machen das Leseerlebnis zu einem angenehmen Spaziergang, und zwar nicht durch ein Heile-Welt-Märchen. Die Welt und Charaktere erscheinen einzigartig und dennoch realistisch, so hat Dresskau beispielsweise eine harte Kindheit und viele persönliche Niederlagen (Scheitern in der Liebe, Scheitern im Beruf) hinter sich, die sein manisches, böses und größenwahnsinniges Verhalten (zumindest in einem gewissen Ausmaß) erklären und antreiben und übrigens auch für seine Angst vor Vögeln verantwortlich sind, die ebenfalls später in der Geschichte wichtig wird. Überhaupt erscheinen die meisten Eigenschaften von Charakteren und Orten zunächst zufällig, doch so wie das Buch Zusammenhänge zwischen Büchern und der Welt herstellt, haben auch (fast) alle Eigenschaften einen Ursprung und einen Punkt, an dem sie für die Helden der Geschichte essenziell werden. Eben dies, aus Zufall ein System zu schaffen und den Leser so unerwartete Zusammenhänge entdecken zu lassen, trägt sehr viel zu der anhaltenden Wirkung des Buches bei.
Ein Buch, das seinen Platz gefunden hat
Selbstverständlich ist dieses Buch nicht so tragisch wie Titanic, nicht so gesellschaftskritisch wie Der Fänger im Roggen, nicht so sprachlich einzigartig wie Das Muschelessen und auch die Welt und Charaktere lassen sich nicht mit einem Der Herr der Ringe vergleichen. Doch das muss dieses Buch auch gar nicht, im Gegenteil wäre es äußerst uninteressant, stets denselben Klassikerstoff wiederzukäuen. Es hat seinen eigenen Platz gefunden und ist auf seinen eigene Weise einzigartig inmitten all der großen Namen und Werke. Es steht, so wie es steht, und dass auch gut genug, um weiter so zu stehen. Allein das Konzept ist äußerst interessant und sehr gut umgesetzt, nicht nur sprachlich, sondern auch in der Handlung, sodass es zum Nachdenken und Gesellschaftskritik anregt. Die wunderbare Umsetzung dieses Werkes lässt mich schier erschaudern, und nach all dem Palaver bin ich froh, sagen zu können: Wir haben in Carsten Henn einen wunderbaren Autor gefunden, der auch in Zukunft aus der Menge wird herausstechen können.
– Felix J.F. –
„Die Goldene Schreibmaschine“ von Carsten Henn
(Jugendroman veröffentlicht 2024 bei Friedrich Oetinger)
Hier geht’s zum Buch beim Verlag: “Die Goldene Schreibmaschine”
Verbotene Bücher
Geschichten haben Macht. Sie haben die Kraft, Menschen zu beeinflussen in ihrem Denken und Fühlen, in ihren Entscheidungen und vor allem darin, was sie über die Welt wissen und wie sie sich selbst in der Welt verstehen.
Das wissen auch Machthaber. Deswegen findet Emily in der Bibliothek auch Bücher, die verboten oder verbrannt wurden. Sie spricht mit ihrer Oma darüber, die ihr das sehr gut erklärt: „In Büchern sind Ideen, und Ideen sind das Gefährlichste, was es gibt. Denn Ideen, vor allem große, kraftvolle, die lassen sich nicht töten.“ Sie sagt weiter, dass die Idee der Demokratie einem König nicht gefallen würde, ein Buch über schöne Speisen würden in einem Land mit Hunger verboten sein. „Mächtige Menschen wollen nichts von ihrer Macht abgeben und ertragen deshalb niemanden neben sich, der auch mächtig ist. Also verbieten sie Bücher mit mächtigen Ideen oder verbrennen sie.“ (S. 138f)
Das hat mich dazu veranlasst, mich erneut mit diesem Thema zu beschäftigen. Ich habe über die Bücherverbrennungen im Jahr 1933 recherchiert. Und ich habe gelesen, wie heute in Deutschland mit der Freiheit des Wortes umgegangen wird und welche Institutionen sich mit welch strukturierten Verfahren dafür einsetzen, dass diese Freiheit und gleichzeitig Menschenrechte und Grundrechte gewahrt werden. Bei meiner Recherche bin ich auch aufmerksam darauf geworden, dass seit einigen Jahren immer mehr Bücher aus US-amerikanischen Schulen, Schulbibliotheken und öffentlichen Bibliotheken verschwinden. Hier ist nur ein einfaches Verfahren nötig, um Bücher in „challenged books“ und „banned books“ zu überführen. Einzelne Personen oder Gruppen können Bücher melden, die dann geprüft werden (challenged books) und je nach Entscheidung dann verboten werden (banned books) oder nicht. Auf der Seite des Schriftstellerverbandes PEN America und des Bibliotheksverbandes ALA American Library Association finden sich ausführliche Informationen sowie Statistiken und eine Liste mit inzwischen über 10.000 verbotenen Titeln, größtenteils bekannter Autor*innen. Es sind solche Geschichten, die uns etwas erzählen über Rassismus, sexuelle Erfahrungen und Identitäten, psychische Gesundheit, religiöse Themen, das Leben von Menschen mit Behinderung, über soziale Gerechtigkeit, Trauer und Tod. Werden diese Bücher verboten, werden diese betroffenen Menschen in ihrem Ausdruck, in ihrer Sichtbarkeit und Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt. Außerdem können wir Lesenden uns weniger aus authentischen Erzählungen über verschiedene Lebensrealitäten informieren, finden weniger Identifikationsangebote, eine informierte Meinungsbildung wird schwerer.
Diese Eindrücke und Informationen habe ich in einem Fanzine für mich persönlich festgehalten. Diese Form schien mir die passendste, denn sie spiegelt das wieder, worum es geht: Die Kraft der Geschichten auf sich wirken lassen. Sich kreativ als Fanfiction mit Geschichten beschäftigen.
– Jana –
Weitere Infos und Anregungen
Wie auch du ein Fanzine machen kannst, erfährst du in unserem Blogpost „Fanzines und Fanfiction. Schreiben zu Geschichten.“
Wenn du noch am zweiten Tag unseres Workshops “Fanfiction – für junge Fanfiction-Anfänger, Schreibbegeisterte und Leseratten“ teilnehmen möchtest oder mit uns im Buchclub über weitere Bücher sprechen magst, kommst du hier zur Beschreibung und Anmeldung: https://www.schreibdrueber.de/workshops-und-buchclubs
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