Vom Anderswerden durch Worte.

Dieses Buch ist ein weiterer Jugendroman, der auf ganz nachdrückliche Weise erfahrbar macht, welche Bedeutung das Lesen und Schreiben für Menschen haben kann. 

Jam ist neu auf einer Schule für „emotional fragile, hochintelligente Teenager“. Dort kommt sie in die Literaturklasse von Mrs. Quenell – zusammen mit vier anderen Jugendlichen, die alle etwas Tragisches erlebt haben. Sie wissen nicht, warum sie von der Lehrerin für diesen Kurs ausgewählt wurden und ihre Lehrerin äußert sich dazu nicht. Sie liest und bespricht mit den Jugendlichen Sylvia Plaths „Die Glasglocke“. Streng und zugleich auf eine spezielle Art zugewandt fordert sie, dass die fünf zweimal wöchentlich Tagebuch schreiben und das Tagebuch am Ende des Schulhalbjahres abgeben. Nicht damit sie es lesen kann, sondern weil sie davon überzeugt sei, dass sich die Schüler weiterentwickeln und nicht an einer Stelle verharren sollten. Die Jugendlichen reagieren verunsichert, wissen nicht, worüber und wie sie schreiben sollen. „Jeder“, sagt sie und blickt in die Runde, „hat etwas zu sagen. Aber nicht jeder kann es zum Ausdruck bringen. Eure Aufgabe ist es, einen Weg dafür zu finden.“ (Seite 53)

Während die Jugendlichen in ihren Zimmern in das Tagebuch schreiben, erinnern sie sich an Details ihrer je persönlichen Geschichte und haben so einen neuen Zugriff darauf, um sie zu verarbeiten. Hier fließen sehr bedrückende Ereignisse aufs Papier, worüber die fünf auch nach und nach ins Gespräch kommen. Und noch etwas ist für sie besonders: Diese „Ausflüge“ in ihre Tagebücher nehmen sie wie Besuche in Parallelwelten wahr. Und wir als Lesende können uns wundern, ob diese Welten hier auf magische Weise existieren oder ob sie eine Metapher sind für den Möglichkeitsraum, der sich durch das Schreiben öffnet.

Um den eigenen Raum geht es auch bei der Lektürebesprechung von Sylvia Plath. Hier finden sie Anknüpfungspunkte, sie können in Resonanz und in Abgrenzung gehen. Auf jeden Fall verändert sie die intensive Begegnung mit Literatur. „Alle sagen immer, dass es überflüssig geworden ist, Literatur zu lesen, weil das die Welt nicht weiterbringt. (…) Dass große Literatur es nicht vermag, Dinge anders zu machen. Ich bin anders. Es ist schwer in Worte zu fassen, aber es ist die Wahrheit.“ (S. 367)

Am Ende resümiert Jam: „Wörter sind von Bedeutung. In den vergangenen Wochen haben wir nach Wörtern gesucht, um das auszudrücken, was uns auf dem Herzen lag. Wir waren alle auf der Suche nach unserer Stimme.“ (S. 367) Und mit dem entwickeln ihrer eigenen Stimme haben sie sich als Menschen weiterentwickelt. Damit scheint die Rechnung von Mrs. Quenell aufzugehen. Die Protagonistin überlegt: „Vielleicht sollte ich mir ein neues Tagebuch kaufen. Es gibt auch andere Dinge, die ich aufschreiben könnte. Ich muss mich nicht für immer von dem einen Thema beherrschen lassen. Zum Beispiel könnte ich Songtexte schreiben.“ (S. 344)

Meg Wolitzer: Was uns bleibt ist jetzt

(Jugendroman, erschienen 2017 bei cbj Jugendbuch, Übersetzung: Petra Koob-Pawis)