Worte sind zwar klein, aber gut gegen das Vergessen.
Toni hat sich bestens vorbereitet: Unter ihrem Bett hat sie tonnenweise Süßigkeiten vor ihrem Papa versteckt und Bauteile. Denn in dieser Nacht zeltet sie im Garten mit ihrem besten Nahmensch, Superbrain Yumyum. Die interessiert sich so für Naturwissenschaften, dass sie ein eigenes kosmisches Radio gebaut hat, mit dem sie Tonis Mama im Himmel anfunken wollten. Wegen Tonis großer Vermissung. Denn Tonis Mutter ist an Krebs gestorben, noch bevor sie zehn Jahre alt wurde. Und das ist noch gar nicht so lange her.
im Himmel anfunken
Und weil im Universum keine Energie verloren geht, funken sie himmelwärts. Dennoch hat Toni auch Angst, davor dass es nicht funktioniert. „Solange wir es nicht probieren, besteht die Möglichkeit, dass es klappen könnte. Wenn wir es probieren und es funktioniert nicht, dann ist auch diese Möglichkeit gestorben. Genau wie Mama. Verstehst du das? Hoffnung ist nämlich ein so schöner Trost. Andererseits: Wenn wir es nicht probieren, wird es auch nicht funktionieren, weil wir es nie probiert haben. Also probieren wir es natürlich. Äh. Willkommen in meinem Kopf.“
und weil sie es probieren
Und weil sie es schließlich in dieser Nacht probieren, zählt Toni die Kapitel in diesem Buch auch wie einen Count Down ab 10 rückwärts. Naja, manchmal gab es etwas mehr zu erzählen, weshalb die Kapitel auch so hießen wie „Zehn (weiter geht’s)“ oder „Acht (jaja, immer noch)“. Und weil sie es in dieser Nacht probieren, erreichen sie auch jemanden. Aber nicht die Mama, nein Zanna, eine Astronautin auf der Internationalen Raumstation. Mit ihr führen sie ein besonders Gespräch. Denn die Funkverbindung funktioniert nur, wenn die Raumstation gerade ihre Seite der Erde passiert. Danach müssen sie wieder 80 Minuten warten, bis sie wieder da ist. Die Mädchen und die Astronautin sprechen über Tonis Mama und Trauer. Und wie Zanna die Mädchen ermutigt, dass man als Mädchen und als Frau etwas Großes schaffen kann, so versorgen die Mädchen Zanna mit Sinneseindrücken von den ganz kleinen Dingen, die Zanna da oben vermisst, wie das Gefühl von Gras unter den Füßen. Als Lesende sind wir ganz nah dabei und können uns daran erinnern, dass gerade im Alltäglichen das Besondere und Schöne zu finden ist.
kleine Worte gegen das Vergessen
Und so sind auch die Erinnerungen an Tonis Mama jene an besondere und an alltägliche Erlebnisse. Toni hat sie in „Tonis Notizbuch“ aufbewahrt. In den Einträgen folgen wir den Geschehnissen von der Diagnose bis zum Tod. Wir lesen hier von Toni-Pepperonis Geburtstagskuchen, von dem Dosentelefon, das Mama den Freundinnen gebaut hat, aber auch davon, wie sich die Mama verändert hat und gestorben ist. „Meine Worte sind wie Schiffe, die viel zu klein sind für die Erinnerungen. Worte machen mir Angst, irgendetwas unterwegs zu verlieren oder mich falsch zu erinnern. Aber noch mehr Angst habe ich davor, etwas Wichtiges von Mama zu vergessen. Deswegen schreibe ich ja auch alles auf.“ (S. 105)
Das Buch ist ein Kunstwerk
Dieses Buch ist alles gleichzeitig: tief traurig, aber auch lustig und optimistisch, feministisch ermutigend, kindlich philosophisch und poetisch. Toni erzählt ihre Geschichte so authentisch, dass man auf einer Seite lachen und auf der nächsten Seite weinen muss. Sie erfindet passende Worte und Bilder, etwa von ihrer Freundin als ihrer Pommesfreundin, ihrer Lachenmacherin und „Ich-fang-dich-wenn-du-fällst-Freundin“. Und über die Zeit sagt sie, dass sich sie sich anfühlt wie „eine elastische Lakritzschnecken-Schnur“, auf die man Erlebnisperlen fädeln kann und man weiß nicht, wie viele noch“. (Kap. Zehn). Diese Leichtigkeit und Traurigkeit zeigt sich auch in der Gestaltung dieses Buches mit den magischen Bildern von Bea Davies in Türkis- und Rottönen.
Das Buch und ich
Als Leserin und Betrachterin bin ich ganz fasziniert davon, wie Humor und Trauer auf so authentische, erfrischende und berührende Weise nebeneinander Platz gefunden haben. Als Trauernde finde ich Trost und Zuversicht. Und als Schreibende fallen mir die Notizbucheinträge auf. Ja, wie schwer es ist, in die kleinen Worte alles hineinzupacken, um nicht zu vergessen. Und wie es auch für mich das wichtigste Mittel genau dafür ist.
Karen Köhler: himmelwärts
(Kinderroman ab 10 Jahren, erschienen 2024 bei Hanser, mit Illustrationen von Bea Davies)
Das Buch beim Verlag: finden sie hier
Website der Autorin: Karen Köhler
Website der Illustratorin: Bea Davies
Schreiben und Erzählen zum Bewahren
Hier sind weitere Buchempfehlungen, in denen wir Bücher vorstellen, in denen des darum geht Erinnerungen zu bewahren durch das Erzählen und Schreiben:
Luna Al-Mousli: Um mich herum Geschichten
Katharina Hagena: Der Geschmack von Apfelkernen
Cath Crowley: Das tiefe Blau der Worte
Schreiben für neue Kraft
Und dieses Buch richtet sich an Menschen, die eine schlimme Diagnose bewältigen müssen und behutsam aus der Sprachlosigkeit geführt werden möchten:
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